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© Anli Serfontein

Kasachstan: Die Kraft zu überleben

LWB-Generalsekretär Noko zeigt sich tief berührt vom Schicksal der LutheranerInnen in Kasachstan

In den letzten 70 Jahren hat die lutherische Kirche in Kasachstan schwierige Zeiten durchgemacht; sie hat jedoch überlebt. Noch vor 20 Jahren war sie eine starke Gemeinschaft, die durch die schlimme Erfahrung der Zwangsumsiedlung geprägt war. Heute gehören ihr nur noch kleine, verarmte Gemeinden an.

Zwei traumatische Ereignisse haben die Geschichte der Kirche geprägt.

Zum einen die Erinnerungen an die Zwangsdeportation von einer halben Million zumeist lutherischer Russlanddeutscher aus der damaligen Wolgarepublik. Sie sind auch heute noch in den Köpfen vieler Menschen und werden von den Überlebenden durch mündliche Überlieferung wach gehalten. Ursprünglich hatten sich viele von ihnen auf Einladung der russischen Zarin Katharina der Grossen im 18. Jahrhundert in der Wolgarepublik angesiedelt. Der sowjetische Diktator Joseph Stalin verbannte sie 1941 nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion mitten in einem sibirischen Winter in die russische Steppe – bei Minusgraden, ohne Nahrungsmittel und Unterkünfte.

Und dann, 50 Jahre später, als sie sich eine neue Existenz und neue Gemeinschaften aufgebaut hatten, erlangte Kasachstan die Unabhängigkeit, und es setzte eine Massenemigration vieler Russlanddeutscher nach Deutschland ein, die eine Riesenlücke in der Heimat hinterliess. Ganze Gemeinschaften wurden von der Landkarte ausradiert und die ehemals überfüllten Kirchen blieben innerhalb weniger Jahre leer. 18 Jahre nach Beginn der Emigrationswelle umfasst die Evangelisch-Lutherische Kirche in der Republik Kasachstan (ELKRK) heute knapp über 50 Gemeinden, verglichen mit 228 im Jahr 1993.

„Es war eine schlimme Zeit, als so viele Menschen nach Deutschland auswanderten. Ich danke Gott, dass unsere Gemeinde überlebt hat“, erinnert sich Rubin Sternberg, Vorsitzender der Lutherischen Synode in Kasachstan.

Lange Wege

Die leidvolle Geschichte der kasachischen Kirche hat bei Pfr. Dr. Ishmael Noko, Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes (LWB), der die ELKRK-Gemeinden in den Jahren 2003 und 2006 mehrfach besuchte, einen tiefen Eindruck hinterlassen. Anfang Juli verbrachte Noko drei Tage in Astana und Pawlodar, wo er mit überaus engagierten Pfarrern der weit verstreuten Gemeinden zusammentraf und ihnen aufmerksam zuhörte. „Ihre Kirche mag noch so klein sein, aber ich überbringe Ihnen die Grüsse von mehr als 68 Millionen Lutheranern und Lutheranerinnen aus aller Welt“, begrüsste der Generalsekretär seine ZuhörerInnen, unter denen auch ein Pfarrer war, der ganze 1.000 Kilometer von seiner Gemeinde in Ostkasachstan bis nach Astana zurückgelegt hatte, um den LWB-Generalsekretär zu treffen.

Im Gespräch mit den Pfarrern sagte Noko: „Ich glaube, dass Lutheraner und Lutheranerinnen ausserhalb Kasachstans erfahren müssen, wie Sie dem Wort Gottes die Treue bewahrt haben. Viele hätten nicht standgehalten, doch Sie haben überlebt. Sie haben der Welt gezeigt, dass die Kirche Jesu Christi allen Widrigkeiten zum Trotz fortbestehen kann.“

Die Strasse von Astana nach Pawlodar, die durch die kasachische Steppe führt, ist lang, gerade und holperig. Der Fahrer von Bischof Juri Nowgorodow steuert immer wieder auf die falsche Strassenseite, um tiefe Schlaglöcher zu vermeiden. „Das hier ist die kasachische Autobahn“, sagt der Bischof lächelnd. Die eintönige Weidelandschaft, auf der in der Entfernung Schafe grasen, die von berittenen kasachischen Hirten bewacht werden, wird nur von Gräbern am Strassenrand unterbrochen; eine ständige Warnung, wie gefährlich die Strasse ist.

Die insgesamt 900 Kilometer lange Hin- und Rückfahrt von Astana nach Pawlodar, die für den Bischof und die Pfarrer in diesem riesigen Land reine Routine ist, dauerte 19 Stunden. Nowgorodow ist seit 2005 Bischof der ELKRK.

Die 75-jährige Klara Walejewa gehört der kleinen Gemeinde in Pawlodar in Nordostkasachstan an. Sie war noch ein Kind, als die Wolgadeutschen ohne vorherige Ankündigung ins Exil verbannt wurden. Sie erinnert sich noch daran, dass sie damals keine Zeit hatten, ihr Hab und Gut zusammenzupacken, und wie ihr Vater auf der Flucht starb. Seit ihrem siebten Lebensjahr musste sie, genau wie ihre vier Geschwister, hart arbeiten. Auf die Frage, warum sie nicht die Schule besucht habe, antwortet sie mit leiser Stimme: „Wir hatten dafür nicht die richtigen Kleider.“ Seit ihrem zwölften Lebensjahr arbeitete sie als Hausmädchen und mit 19 Jahren heiratete sie. Heute ist sie verwitwet und lebt mit ihrer Tochter in Pawlodar, wo sie regelmässig die Kirche besucht. Die Kirche ist ihr Lebensmittelpunkt und hält die Vergangenheit in ihr wach. Sie habe nie den Wunsch gehabt, nach Deutschland auszuwandern, erzählt sie. Ihre Heimat sei hier in Pawlodar.

Emigration

Alla Schirochowa spricht fliessend deutsch. Sie wuchs in Nowousenka, einem deutschen Dorf in Nordkasachstan auf, wo alles im Überfluss vorhanden war. Nach dem Sonntagsgottesdienst in Astana denkt die 40-Jährige daran zurück, wie schön ihre Heimat war und in welchem Wohlstand sie dort lebten. „Wir waren reich“, erzählt sie. Heute leben fast alle Deutschstämmigen dieses Dorfes in Deutschland.

Die ausgebildete Deutsch- und Englischlehrerin zog von Nowousenka nach Astana um, wo sie Deutsch am Lutherischen Seminar unterrichtete, bis das Institut schliessen musste. Heute findet ihr Mann nur noch kleine Gelegenheitsjobs, während sie selbst Übersetzungen macht. Sie hat drei Kinder, von denen eines die Universität besucht. Schirochowa ist permanent von Geldsorgen geplagt. Die Mieten in den neuen Hochhäusern, die das Stadtbild der neuen Hauptstadt Astana prägen, sind extrem hoch und es gibt immer weniger Arbeit, besonders wenn man kein Kasachisch spricht.

Schirochowas Gesicht hellt sich auf, als sie von der Zeit erzählt, in der so viele Menschen den Sonntagsgottesdienst in Astana besuchten, dass nicht alle in die Kirche passten und viele im Vorhof stehen mussten. Heute nimmt nur noch eine Handvoll Menschen an den Gottesdiensten teil.

Die älteren Frauen tragen in der Kirche auch heute noch einen schwarzen Rock, eine weisse Bluse und auf dem Kopf ein kleines dreieckiges Kopftuch. Nach dem Gottesdienst singen sie deutsche Kirchenlieder. An diesem warmen sommerlichen Sonntagmorgen liegt in ihren schönen Stimmen ein Hauch von Melancholie, von Sehnsucht nach längst vergangenen Zeiten und nach FreundInnen und Familienangehörigen, die jetzt in der Ferne leben.

Die riesige Emigrationswelle hat dazu geführt, dass die Gottesdienste heute auf Russisch gehalten werden. Infolgedessen hat die Kirche sich von einer traditionell deutschen Kirche, die deutsche Traditionen und Sprache bewahrte, in eine multiethnische Kirche verwandelt. „Wir sind von einer monoethnischen zu einer multiethnischen Kirche geworden. Nur so haben wir eine Chance für die Zukunft. Dadurch bieten sich uns vor allem in den Städten viele Möglichkeiten, aber unsere personellen und finanziellen Mittel sind begrenzt“, erklärt Nowgorodow.

Unter Stalin war es den LutheranerInnen nicht erlaubt, ihren Glauben offen zu praktizieren. Deshalb sehen einige der lutherischen Kirchen in Kasachstan wie normale Wohnhäuser aus. In diesem Land mit einer Bevölkerung von 16 Millionen Menschen sind weniger als zwei Prozent ProtestantInnen, während die MuslimInnen mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Seit dem Untergang der Sowjetunion bekennen sich immer mehr Menschen in diesem multiethnischen Land zu einer Religion.

Schirochowas Antrag auf Einwanderung nach Deutschland, wo bereits ihre Mutter und drei Geschwister leben, wurde abgelehnt. 2008 erhielt ihre Tochter nicht einmal ein Visum, um Verwandte in Deutschland zu besuchen. Sie erzählt von der schwierigen Zeit, in der die Familie zwischen der Hoffnung auf Emigration und dunkleren Momenten der Verzweiflung hin und her schwankte, bis der Antrag schliesslich abgelehnt wurde. „Es waren sechs schreckliche Jahre, in denen wir gewartet haben – ein Leben aus dem Koffer“, berichtet sie und beklagt, dass ihre Kinder ihre Familie nicht kennen.

Zudem macht sie sich immer grössere Sorgen um ihre Zukunft als bekennende Christin in Kasachstan. „Seit einiger Zeit haben wir manchmal richtig Angst, weil dies ein muslimisches Land ist. Und das ist immer mehr der Fall.“

Loyalität und Engagement

Rund 450 Kilometer von der Hauptstadt entfernt leitet Schirochowas Halbbruder Stanislaw Mikula, der – wie fast alle übrig gebliebenen Pfarrer in diesem riesigen Land – lutherischer Laienprediger ist, die zweite Gemeinde in Pawlodar. Vor neun Jahren gründete er diese Gemeinde und seither nehmen rund 25 Menschen regelmässig am Sonntagsgottesdienst teil. Die Woche über arbeitet Mikula als Traktorfahrer, die Sonntage reserviert er für die Predigten in der kleinen Kirche. Er hat eine Einreisegenehmigung für Deutschland erhalten, aber er will mit seiner jungen Familie hier bleiben, weil er sich seiner Gemeinde zutiefst verpflichtet fühlt und hier seine Lebensaufgabe gefunden hat.

Nach dem dreitägigen Besuch bei der ELKRK verspricht LWB-Generalsekretär Noko Bischof Nowgorodow und seinen Pfarrern, dass er sich weiter für die kasachische Kirche stark machen werde. „Ich tue das deshalb, weil Sie als Lutheraner und Lutheranerinnen diese Zeit mit unvorstellbarer Kraft durchgestanden und überlebt haben. Ihr Glaube, dem Sie unter schwierigsten Bedingungen, mit wenig finanziellen und anderen Mitteln und trotz der langen Wege, die Sie zurücklegen müssen, die Treue gehalten haben, hat Ihnen dabei geholfen. Ich habe die lutherische Kirche in Kasachstan in mein Herz geschlossen“, erklärte Noko.

Eine Feature von LWI-Korrespondentin Anli Serfontein.

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